Frank Leymann war skeptisch, als er zum ersten Mal von Quantencomputing hörte. Doch nach intensiver Beschäftigung mit dieser Technologie ist er heute ein Experte und überzeugter Verfechter des Quantencomputings. Der Professor für Informatik an der Universität Stuttgart erklärt, warum Quantencomputing an der Schwelle zur kommerziellen Nutzung steht – und warum sich Unternehmen heute damit befassen sollten, um morgen davon zu profitieren.
Frank, was finden Sie so faszinierend am Quantencomputing?
Die Möglichkeit, Probleme, die man für unlösbar hielt, in einer vernünftigen Zeit zu lösen. Zum Beispiel die Primfaktorzerlegung; in der Schule haben wir das gelernt. Sie haben eine Zahl und wollen deren Primfaktoren bestimmen. Das klingt einfach, ist aber unmöglich. Mit klassischen Algorithmen lässt sich diese Aufgabe praktisch nicht bewältigen. Ein fehlerkorrigierter Quantencomputer erledigt das aber innerhalb von ein paar Minuten. Und er fügt eine weitere Dimension hinzu: Präzision. Quantencomputer können Probleme mit einer viel höherer Präzision lösen, als dies mit traditionellen Methoden möglich ist.
Was macht einen Quantencomputer so leistungsfähig?
Quantencomputer arbeiten nicht mit Bits, die nur die beiden Zustände null und eins annehmen können, sondern mit Quantenbits, sogenannten Qubits. Ein Qubit besteht aus einer beliebigen Kombination der Zustände null und eins. Das nennt man Superposition, eine unendliche Zahl gleichzeitig möglicher Zustände. Wenn man diese verändert, verändert man eine unendliche Menge an Daten. Hinzu kommt noch ein Phänomen, das selbst Einstein nicht wirklich akzeptieren konnte. Man nennt es Verschränkung. Es bedeutet, dass ein Qubit in eine sehr enge Beziehung mit anderen Qubits gebracht werden kann. Das heißt, wenn sie ein Qubit verändern, verändern Sie im gleichen Schritt auch die anderen Qubits.
In bestimmten Kreisen gilt Quantencomputing als undurchschaubarer Hype. Was halten Sie dem entgegen?
Ich war anfangs auch skeptisch. Doch dann habe ich mit dem Thema befasst und war begeistert. Mir ist klar geworden, dass es sich dabei um etwas Reales handelt. Zwar gibt es noch schwerwiegende Probleme mit der Hardware, die es zu lösen gilt, aber es geht definitiv schneller voran als erwartet.
Welche Fortschritte werden wir in den nächsten Jahren sehen, die eine kommerzielle Nutzung dieser leistungsfähigen Technologie ermöglichen?
Erstens werden wir es schaffen, physikalische und chemische Systeme zu simulieren, das ist relevant für die Materialwissenschaft. Dann wird es Fortschritte in der Medizin geben. Hier versucht man, neue Moleküle zu finden, die gezielt zur Heilung von Krankheiten eingesetzt werden können. Der dritte Bereich ist das Maschinenlernen. Das funktioniert mit einem Quantencomputer sehr gut und in einem brauchbaren Maßstab. Und viertens können wir bereits mit den heute existierenden Quantencomputern bestimmte Probleme der Portfoliooptimierung lösen.
Wie sieht die praktische Anwendung in der Materialwissenschaft aus?
Bekanntlich arbeitet die Automobilindustrie an Batterien für ihre Elektrofahrzeuge. Das Problem der heutigen Batterietechnik ist die Knappheit natürlicher Ressourcenwie Kobalt. Es gibt einfach nicht genug für all die Batterien der Elektrofahrzeuge, die in den nächsten Jahren gebaut werden.
Das heißt, die Materialwissenschaft versucht, Kobalt durch andere Substanzen zu ersetzen?
Genau, und dafür müssen sie eine Simulation durchführen. Eine Simulation dauert sehr lang, selbst mit Hochleistungsrechnern. Erste Schritte zeigen bereits, dass Quantencomputer diese Art von Materialforschung stark beschleunigen.
Sehen Sie Einsatzmöglichkeiten im Bereich des Industrial Internet of Things?
Natürlich. Stellen Sie sich vor, Sie hätten zig Millionen Sensoren, die Tonnen von Daten ausspucken. Für die Vorverarbeitung und Verarbeitung dieser Sensordaten ist Geschwindigkeit sehr wichtig. Hier kommen die Quantencomputer ins Spiel, weil sie nicht nur genauer, sondern auch sehr viel schneller sind. Außerdem lassen sich damit absolut sichere Protokolle zwischen dem Sensor und dem Prozessor etablieren. Verschlüsselung und Geschwindigkeit sind die Bereiche, bei denen das Internet of Things vom Quantencomputing wirklich profitieren wird.
Wann werden Anwendungen, die auf Quantencomputing basieren, reif sein für den Praxiseinsatz in der Wirtschaft?
Kommt darauf an. Für die Optimierungsprobleme könnte es in den nächsten drei bis fünf Jahren angemessene Lösungen geben, denke ich. Dann würde ich sagen, kommt das Maschinenlernen. Es wird noch mindestens fünf Jahre dauern, bis wir wirklich große Aufgaben lösen können. Und dann Sicherheit. Dieses Thema ist besonders wichtig, weil mit Quantencomputern die aktuellen Sicherheitsschlüssel geknackt werden können. Im Grunde genommen müssen wir Quantentechnologie anwenden, um unsere Kommunikationskanäle abzusichern. Das wiederum erfordert eine Änderung der gesamten Kommunikationsinfrastruktur. Und das wird mindestens zehn Jahre dauern.
Wie können sich Unternehmen auf diese Entwicklungen vorbereiten?
Sie müssen nichts von Quantenmechanik verstehen. Was sie verstehen müssen, um das Potenzial dieser Technologie für ihre Branche zu erkennen, ist das neue Paradigma; und sie müssen darüber nachdenken, was es bedeutet, mit einem Quantencomputer zu arbeiten.
Zum Beispiel?
Als traditionell geprägter Informatiker sind sie es gewöhnt, ihre Programme zu testen. Aber Quantendaten lassen sich nicht kopieren. Das heißt, Techniken wie Debugging sind ein Problem. Zudem müssen sie mit Quantenphysikern zusammenarbeiten, die neue Quantenalgorithmen erfinden. Sie müssen alle ihre Entwicklungsprozesse anfassen, um auf das Quantencomputing vorbereitet zu sein.
Aber wie?
Meine Empfehlung: Fangen Sie jetzt an, sich mit Quantencomputing zu befassen, mit ein paar Leuten, die sich für moderne Technologie interessieren. Quantencomputer gibt es kostenlos oder für kleines Geld in den Clouds von Amazon Web Services und IBM. Nehmen Sie sich einen oder zwei wichtige Problembereiche ihres Unternehmens vor, und versuchen Sie, dafür eine Lösung zu entwickeln, die auf Quantencomputing basiert. So sammeln Sie Erfahrung, und wenn die Quantencomputer in einigen Jahren praxistauglich sind, haben Sie ein Team, das grundsätzlich damit umgehen kann. Wahrscheinlich sind sie dann Ihren Mitbewerbern voraus.
Zur Klarstellung: Quantencomputer werden die aktuelle IT nicht ersetzen?
Selbst ein legendärer Quantenalgorithmus wie der sogenannte Shor-Algorithmus, mit dem sich Schlüssel knacken lassen, ist ein hybrider Algorithmus. Er erfordert klassische Vorverarbeitungsschritte. Dann kommt der Quantencomputer zum Einsatz, im Anschluss ist eine Nachverarbeitung nötig. Ein Quantencomputer kann bestimmte Dinge sehr gut, die sich mit einer klassischen Methode nur schwer ausführen lassen. Sie müssen Daten von einer Festplatte abrufen. Sie müssen die Daten für die Änderung im Quantencomputer vorbereiten. Dann führen Sie mit einem Quantencomputer einen einzigen Analyseschritt aus, und stellen dann fest, dass Sie wieder Ihren klassischen Computer brauchen.
Sie sagen also, der Einsatz von Quantencomputern, um neue Anwendungen zu entwickeln, ist per se eine Integrationsaufgabe?
Das ist richtig. Wenn Sie mit einem Quantencomputer arbeiten, müssen Sie umfangreiche klassische Verarbeitung mit moderner spezialisierter Verarbeitung kombinieren. Der Integrationsaufwand dafür ist hoch, und darauf sollten sich Unternehmen einstellen. Integrationstechnologie hat eine enorme Bedeutung. Sie kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Nochmals, ich empfehle Unternehmen: Fangen Sie jetzt an! Die Quanteninformatik begründet ein neues Technologiezeitalter.
Frank Leymann ist Informatiker und Mathematiker. Nach seiner Promotion in Mathematik arbeitete er in der Softwareforschung und -entwicklung bei IBM und war an der Entwicklung von Produkten wie DB2, Websphere oder MQSeries beteiligt. Seit dem Jahr 2004 ist er ordentlicher Professor für Informatik an der Universität Stuttgart, wo er das Institut für Architektur von Anwendungssystemen gründete. Er ist Inhaber zahlreicher Softwarepatente. Im Jahr 2020 wurde er in den Expertenrat der deutschen Bundesregierung für Quantencomputing berufen.