Meldet euch, wagt etwas!
            

Noch immer gibt es in der Tech-Szene relativ wenige Frauen in Top-Führungspositionen. Ursula Soritsch-Renier ist eine von ihnen. Beim französischen Baustoff-Konzern Saint-Gobain verantwortet sie als Vorständin IT und Digitalisierung. Ein Gespräch über harte Arbeit, kommunikatives Geschick und warum es essentiell ist, Digitalisierung ganzheitlich zu betrachten.

Frau Soritsch-Renier, vor einigen Jahren waren Sie für Ihre damalige Firma in Las Vegas am Stand auf einer Messe. Ein Mann kam auf Sie zu und sagte: „Hey booth babe, can you tell me with whom I am supposed to talk about ...“?
SR: (lacht) Ja, genau so war es! Er wollte Auskunft über die Technologie, für die ich die Expertin war. Es war ihm sehr peinlich. Nach einem kurzen Gespräch verschwand er mit hochrotem Kopf.

Erleben Sie solche Situationen heute noch?
SR: Nein, es ist schon länger nichts mehr passiert. Aber was für mich damals interessant war und auch heute noch ist: Der Mann hatte sein Vorurteil gegenüber Frauen in Worte gefasst. Bei einer solchen Einstellung – und ich hatte früher viele dieser Momente – muss man sich doppelt beweisen, fachlich und durch Einsatz. Aber das hat mich nie abgeschreckt, eher gereizt.

Schon Ihre Fächerwahl an der Universität Wien war ungewöhnlich. Sie studierten Informatik und Philosophie. Hat sich die Kombination im Rückblick gelohnt?
SR: Ich denke schon. Ich liebe es bis heute, strategisch zu denken, zu reflektieren, auch zu philosophieren. Technologie ohne Menschen kann nicht funktionieren, genausowenig wie Informatik ohne eine gute, breite Analyse. Als CIO darf man Technologie nicht blind einsetzen, sondern immer eingebettet und vernetzt in andere Systeme. Dieser notwendige Blick über den Tellerrand ist etwas, was mich die Philosophie gelehrt hat.

Reflektieren ist das eine, handeln das andere. Angeblich treffen Sie gerne Entscheidungen. Stimmt das?
SR: Ich mag Klarheit und schätze das offene Wort. Ich glaube, dass jede Entscheidung eine richtige ist. Selbst jene, die sich im Nachhinein als nicht optimal oder sogar falsch herausstellt. Wenn man agil und flexibel genug ist, kann man fast jede Entscheidung justieren und adaptieren. Wer sich nicht entscheidet, lernt nicht dazu.

Was treibt Sie dabei an?
SR: Ehrgeiz und Freude, etwas zu bewegen, zu verändern. Die Dinge selbst in die Hand nehmen. Dazu ein kleines Beispiel: Bei einem meiner früheren Arbeitgeber hatten wir sehr große IT-Projekte in der Produktion erfolgreich eingeführt. Der oberste Chef aus der Zentrale kam zu Besuch. Natürlich stand ich nicht auf seiner Besucherliste. Trotzdem habe ich beinahe den ganzen Tag dort ausgeharrt, bis ich die Möglichkeit bekommen habe, mein Projekt selbst vorzustellen. Ich wollte den Erfolg, für den ich hart gearbeitet hatte, auch selbst einheimsen.

Ich empfehle, Dinge „out of the box zu tun“ und auch so zu handeln. Ich habe immer gerne „Hier!“ geschrien. Und ich freue mich heute über junge Frauen und Männer, die das ebenfalls tun, aber natürlich immer mit Respekt vor Ihrer Hierarchie.

Es heißt, wenn eine Frau das tut, polarisiere sie mehr als ein Mann. Ist das auch Ihre Erfahrung?
SB: Da ist schon was dran. Es gibt viele Männer, die Frauen, die Karriere machen, positiv gegenüberstehen und diese auch aktiv fördern. Und trotzdem werden immer noch viele Frauen auf dem Weg nach oben skeptisch betrachtet. Man muss sich behaupten, um nicht als schwächer eingestuft zu werden.

Aber wie geht das: „Sich behaupten“? Wie machen Sie das?
SB: Es hat mehrere Ebenen. Letztlich zählt Leistung. Erfolgreiche Projekte. Und was auch für mich immer extrem wichtig war, dass ich kompetent war, nämlich technologisch kompetent. Kunden und Lieferanten können mir bis heute nichts vormachen. Außerdem benötigt man neben der technologischen Kompetenz auch eine Fachliche. Ich habe immer in Firmen gearbeitet, die etwas mit industrieller Produktion zu tun hatten. In diesen Bereich habe ich mich natürlich hineingearbeitet, um auf Augenhöhe wahrgenommen zu werden und vor allem auch, um in der Lage zu sein, die richtigen Fragen zu stellen. Nur dann kann ich klare, gut begründete IT-Entscheidungen treffen.

Apropos Klarheit. Sie sagten einmal, es sei vor allem für Frauen sehr wichtig, deutlich zu formulieren, was sie machen wollen und wohin sie sich entwickeln wollen. Wann wurde Ihnen das selbst klar?
SB: Das war der Moment, als ich spürte, ausreichend Erfahrungen gesammelt zu haben, um CIO zu werden. Diesen Wunsch habe ich ausdrücklich kommuniziert. Das machte es konkret – und es erlaubt anderen, einem zu helfen. Netzwerke sind dabei ein wichtiges Element. Ich selbst bin in ein paar IT-Netzwerken wie auch in frauenorientierten, etwa „Generation CEO“, das ins Leben gerufen wurde, um speziell Frauen auf ihrem Weg nach oben sichtbar zu machen und tatkräftig zu unterstützen. Davon brauchen wir noch viel, viel mehr.

Ein Karriere-Tipp vor allem für eine Frau lautet, Sie solle bei einer Aufstiegsmöglichkeit die Hand heben, auch wenn Sie die Qualifikationen nicht vollständig erfülle. Stimmen Sie zu?
SB: Es gibt Untersuchungen, die belegen, dass Männer sich auf einen Posten bewerben, wenn sie sechs von zehn geforderten Kriterien erfüllen. Frauen tun das meist erst dann, wenn sie acht oder neun matchen. Mein Rat: Meldet euch, wagt etwas!

Sie waren schon bei mehreren Unternehmen. Was ist für Sie ausschlaggebend, wenn Sie den Job und die Firma wechseln?
SB: Die Menschen, das Team, die Haltung. Und die Führungskultur. Bei Saint-Gobain, wo ich im März 2021 eintrat, haben wir uns trotz Corona-Lockdown Zeit genommen, einander kennenzulernen. Und dabei hat es „Klick“ gemacht. Man muss auf einer Wellenlänge liegen, dieselben Werte teilen. Und klar, es gab und gibt da auch inhaltlich Komponenten, die mich sehr interessieren und herausfordern. Bei denen ich sage: Hier kannst Du richtig etwas bewegen, das ist befriedigend..

Saint-Gobain – Digital Solutions showcases bei Saint-Gobain Tower, La Défense

Und was können Sie bei Saint-Gobain bewegen?
SB: Mich reizt, dieses große, weit verzweigte Unternehmen durch die digitale Transformation zu steuern. Mein Job ist es, Menschen, Prozesse und Technologien zusammenzubringen. Und nur, wenn wir es schaffen, diese drei Bereiche zu synchronisieren, klappt es auch mit der Digitalisierung. Es ist ja nichts einfacher für Leute als ein System zu ignorieren und nicht zu verwenden, wenn sie sich das nicht aneignen. Dann verpufft jede Veränderung. Man muss die Menschen mitnehmen. Die Technologie ist dabei nur ein Mittel zum Zweck.

Können Sie uns ein Beispiel nennen?
SB: Stichwort Cloud. Dabei geht es um einen dynamischen Ansatz anstelle eines statischen. Basierend auf den Beduerfnissen des Geschaeftes kann man Kapazitaeten hinzu- oder abschalten. Berechnungen werden schneller berechnet oder Applikationen ‚stillgelegt‘, wenn sie gerade nicht gebraucht werden und mehr. Cloud bietet eine hochdynamische IT-Umgebung. Die aber zu etablieren, ist eine Herausforderung für alle in der IT. Ihre alte Welt wird auf den Kopf gestellt.

Ein technologischer und ein kultureller Wandel?
SB: Exakt. Und das ist nur ein Beispiel dafür, wie sehr überall im Unternehmen Dynamik und Flexibilität Einzug halten. Digitalisierung ist etwas Organisches, man muss sie holistisch betrachten. Und man muss sie gut erklären, begleiten und moderieren. Am Ende müssen Menschen gerne mit ihr arbeiten, nur dann gelingt sie.

Ursula Soritsch-Renier ist seit März 2021 Group Chief Digital and Information Officer bei Saint-Gobain. Sie ist Mitglied des Executive Committee der Gruppe. Der Konzern ist spezialisiert auf Werkstoffe und Lösungen für das Bau- und Gesundheitswesen sowie die Fahrzeugindustrie. 2020 erwirtschaftete die Gruppe 38,1 Milliarden Euro und beschäftigte rund 167.000 Mitarbeiter. Zuvor arbeitete die gebürtige Wienerin u.a. über zwei Jahre als Group CIO bei Nokia und davor mehr als fünf Jahre in derselben Position beim Maschinenbau-Konzern Sulzer. Ursula Soritsch-Renier ist verheiratet, Mann und Sohn leben in Winterthur in der Schweiz. Von dort pendelt sie regemäßig zum Hautpsitz von Saint-Gobain nach Paris.

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