Die große Wette auf technische Schulden
            

Als technische Schulden bezeichnet man das Nachbessern digitaler Systemen nach ihrer Inbetriebnahme. Laut Software AG Situation Report 2022 sind bei 78 Prozent der Unternehmen die technischen Schulden im letzten Jahr gestiegen. In manchen Unternehmen war der Anstieg gering, in anderen sehr hoch. Technische Schulden sind einerseits entstanden, weil die Unternehmensinfrastruktur komplexer geworden ist. Andererseits wurden sie bewusst aufgenommen, um bestimmte Chancen nutzen zu können.

                    “Technische Schulden sind eine sinnvolle Strategie“
                

Die Einführung neuer Produkte und Services hat im Jahr 2022 für viele Unternehmen eine hohe Priorität. Technische Schulden sind ein wesentlicher Bestandteil dieses Prozesses. Doch entstehen daraus oft Hindernisse, Verzögerungen und zusätzliche Kosten. Dr. Stefan Sigg, CTO der Software AG, erläutert, wie Unternehmen mit diesen Herausforderungen umgehen sollten. 

Stefan, es scheint, als hätten Unternehmen im vergangenen Jahr in besser vernetzte Arbeitsplätze für ihre Mitarbeiter, ein besseres Kundenerlebnis und effizientere Lieferketten investiert. Sehen Sie das auch so?

Es ist richtig, dass viele Unternehmen im Jahr 2021 vernetzter geworden sind, weil sie – auch aufgrund der Pandemie – ihre Digitalisierung vorangetrieben haben. Dieser Trend setzt sich fort. Wir haben im Rahmen einer detaillierten Studie 700 Entscheider aus der IT befragt. Die Studie zeigte: 78 Prozent der Unternehmen erwarten, dass ihre IT-Budgets im Jahr 2022 höher sein werden als im vergangenen Jahr. Und charakteristisch für vollständig digitalisierte Unternehmen ist auch, dass sie sich das Konzept des Minimum Viable Product (MVP) zu eigen machen.

Spotify begann als ein MVP, und von Sheryl Sandberg stammt der viel zitierte Satz, „erledigt ist besser als perfekt“. Warum sind MVPs immer noch attraktiv?

MVPs ermöglichen es Unternehmen, schnell auf die Anforderungen von Kunden oder Mitarbeitern einzugehen, auf veränderte Marktbedingungen zu reagieren und Marktchancen agil zu nutzen. Die Flexibilität, die ihnen diese MVPs geben, bezahlen sie jedoch mit technischen Schulden. In den kommenden Jahren wird dies zu einer Veränderung ihrer Transformationsstrategien führen. Ein gewisses Maß an technischen Schulden ist unvermeidbar und kann sogar ein Vorteil sein, vorausgesetzt, man geht richtig mit diesen Schulden um.

Was verstehen Sie unter technischen Schulden?

Es gibt unterschiedliche Definitionen. Bei der Software AG sprechen wir von technischen Schulden als dem zusätzlichen Aufwand oder der Neuprogrammierung nach der Inbetriebnahme digitaler Systeme.

Wie stark sind Unternehmen davon betroffen?

78 Prozent der Unternehmen haben im vergangenen Jahr höhere technische Schulden angehäuft als in den vergangenen Jahren. Die gute Nachricht ist: 82 Prozent der Unternehmen sind der Meinung, sie könnten einen Teil oder sogar ihre gesamten technischen Schulden einschätzen. Allerdings, und das ist entscheidender, glauben 58 Prozent, ihnen fehle eine formelle Strategie, um mit diesen Schulden umzugehen. An einer solchen Strategie müssen Unternehmen mit Hochdruck arbeiten. In einer Welt, in der technische Schulden normal sind, brauchen Unternehmen ein Konzept, wie sie diese Schulden abtragen können. 

Stefan Sigg, CPO der Software AG, und Sanjay Brahmawar, CEO der Software AG

 

Aber wie?

Wir haben verschiedene Methoden identifiziert, die hilfreich sind. Zunächst sollte man herausfinden, wie sich die technischen Schulden auf das Geschäft auswirken. Untersuchen Sie die gesamte digitale Landschaft auf Engpässe oder Infrastrukturkomponenten, die in irgendeiner Form eingeschränkt werden. Das muss nicht immer etwas sein, dass ein großes Problem verursacht. Aber häufig stehen solche Dinge dem Fortschritt im Wege.

Zum Beispiel Hindernisse in der Systemarchitektur?

Ja, manchmal. Architekturmanagement-Tools können helfen, auf Plattform- oder Infrastrukturebene Systeme zu erkennen, die sich negativ auf das ganze Unternehmen auswirken. Vielleicht, weil sie sich nicht integrieren lassen, bestimmte Daten nicht richtig verarbeiten oder einfach nur sehr langsam oder überlastet sind. Das sind typische Anzeichen dafür, dass technische Schulden da sind, die abgetragen werden müssen.

Manche Unternehmen haben Schwierigkeiten, die Effizienz und Effektivität bestimmter Systeme oder Prozesse festzustellen. Haben Sie für solche Fälle eine Empfehlung?

Process Mining zum Beispiel. Die wichtigste Frage dabei liegt auf der Hand: Werden die gewünschten Ergebnisse erreicht, und zwar so effizient wie möglich? So kann man feststellen, ob bestimmte Prozesse überlastet sind und ob die vorhandenen Funktionen Mitarbeitern und Kunden das liefern, was sie brauchen. Auch so kann man Hinweise auf technische Schulden erhalten, die es zu beseitigen gilt.

Sind digitale Zwillinge ein gangbarer Weg, um mit technischen Schulden umzugehen?

Die Erstellung eines digitalen Zwillings ist eine Methode, um Veränderungen gründlich zu einzuschätzen und fundierte Entscheidungen zu treffen. Anhand eines digitalen Zwillings lassen sich neue Prozesse oder Systeme planen, testen und optimieren und anhand einer Reihe von Echtzeit- oder historischen Datenquellen Prognosen treffen. Die softwaregestützte Abbildung des Unternehmens zeigt die Abhängigkeiten zwischen den einzelnen Komponenten und nutzt Daten aus dem Betrieb, um Erkenntnisse zu liefern. Ein digitaler Zwilling ist ein leistungsfähiges Werkzeug, um zu verstehen, wie sich die technischen Schulden auswirken, und hilft Prioritäten bei ihrer Steuerung festzulegen.

Die zunehmende Komplexität ihrer IT-Landschaft ist für Unternehmen oft ein Problem: Sie haben mehrere Systemschichten, müssen neue Strategien einführen und unterschiedliche Technologien miteinander verbinden. Wie sollten sie hier vorgehen?

Nun, solche technischen Schulden in den Griff zu bekommen ist viel schwerer. Ich würde die Gegenfrage stellen: Wie lässt sich ein Anstieg der Komplexität vermeiden? Wenn man sich beim Designprozess nur ein bisschen mehr Zeit nimmt, um die zukünftigen Anforderungen an eine Plattform oder App zu antizipieren, müssen bestimmte kostspieligere technische Schulden nicht entstehen. Wir haben über MVPs gesprochen. Sie sind ganz klar dafür gedacht, eine dringende Aufgabe zu lösen, daran sollte sich auch nichts ändern. Wenn man aber Nachhaltigkeitsaspekte berücksichtigt, beispielsweise welche Integrationsanforderungen Anwendungen künftig erfüllen müssen, lassen sich unbeabsichtigte technische Schulden vermeiden.

Ein Möglichkeit, die technischen Schulden, die durch MVPs entstehen, zu vermeiden, besteht darin, auf bewährten Code zurückzugreifen und möglichst wenig Code selbst zu schreiben. Würden sie dem zustimmen?

Natürlich! Ich rate dazu, immer zu prüfen, ob Teile des Stacks als Service von einem spezialisierte Anwender eingekauft werden können. Unternehmen, die von einer strikten Build-or-buy-Strategie abrücken, und vielmehr eine pragmatische Build-AND-buy-Strategie verfolgen, häufen nicht nur weniger technische Schulden an, sie können sich auch auf die Entwicklung der Programmteile konzentrieren, die wirklich einen Unterschied machen. Unternehmen sollten nicht das Rad neu erfinden, sondern sich auf dem Markt nach bewährten, erprobten Komponenten umsehen.

Sind Sie der Meinung, dass technische Schulden eine sinnvolle Strategie für das Jahr 2022 und darüber hinaus sind?

In unserer Umfrage gaben 78 Prozent der Unternehmen an, dass eine beschleunigte Einführung neuer Produkte und Dienstleistungen im Jahr 2022 für sie eine hohe oder sehr hohe Priorität haben wird. Wir wissen bereits, dass technische Schulden ein wichtiger, wenn nicht gar unverzichtbarer Bestandteil dieses Prozesses sind. Also, um die Frage zu beantworten: Ja, technische Schulden zuzulassen ist eine sinnvolle Strategie, die Unternehmen reaktionsfähiger machen und es ihnen ermöglichen kann, Chancen bestmöglich zu nutzen und ihre Transformation weiter voranzutreiben. Zu einer wirksamen Strategie für den Umgang mit technischen Schulden gehören aber auch Maßnahmen zur Minimierung unbeabsichtigter technischer Schulden. Eine solche Strategie versetzt Unternehmen in die Lage, sich vollständig zu vernetzen und aus ihren Daten kontinuierlich einen Mehrwert zu schöpfen.

                    Reality Check—2022
                

In unserem jährlichen Prognosebericht untersuchen wir den Stand der Dinge in Bezug auf technische Schulden - ein Nebenprodukt der rasanten Digitalisierung der letzten Jahre - und wie Unternehmen damit umgehen sollten. 

                    2022 Situation Report 
                

Erfahren Sie mehr über die Daten hinter den Trends. Sehen Sie sich den vollständigen Umfragebericht und die Daten im Situation Report 2022 an.
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